Naturismus im 21. Jahrhundert

Versuch einer Standortbestimmung

Das Wort „Naturismus“ bedeutet eine Bewegung, die sich mit der Natur beschäftigt, so wie z.B. der Buddhismus sich mit Buddha (bzw. mit dem Erwachen) und der Humanismus sich mit dem Humanen, d.h. mit dem Menschlichen beschäftigt.

Die Beschäftigung mit der Natur kann vier Bereiche umfassen:

  1. Die eigene Natur, also die Natur des Menschen
  2. Die umgebende Natur, also die gesamte Schöpfung
  3. Die Wechselbeziehung zwischen beiden – und daraus folgend
  4. Die Achtung vor den Naturgesetzen

1. Die menschliche Natur

Der Mensch ist ein Lebewesen und somit den Tieren verwandt. Aus unserer unmittelbaren Erfahrung erleben wir die nahe Verwandtschaft mit den Säugetieren und insbesondere mit den Menschaffen. Die Anthropologie lehrt uns zudem, dass der Mensch und die heute lebenden Hominiden (= menschenähnlichen Affen) von gemeinsamen Urahnen abstammen, die vor einigen Millionen Jahren auf diesem Planeten gelebt haben.

Die meisten Religionen wie auch die Mehrheit der philosophischen Denksysteme postulieren ausserdem, dass der Mensch ein geistiges Wesen sei, das sich in diesem Punkt von den anderen Lebewesen und erst recht von der unbelebten Natur unterscheidet. Verhaltensforscher, die mit Menschenaffen gelebt und ihr Verhalten intensiv studiert haben (zu ihnen gehört auch der Basler Zoologe Jörg Hess1) neigen allerdings zu der Ansicht, dass die Unterschiede nicht absolut, sondern nur relativ sind. Tradition und Kultur wie auch individuelle Eigenarten kenenn wir bei Tieren ebenfalls aus eigener Anschauung und finden es auch wissenschaftlich belegt. Das einzige, was den Menschen dann letztlich noch von den Tieren unterscheidet, ist sein Wissen um den Tod – und daraus folgend der besondere, rituelle Umgang mit dem Tod. Dieses Wissen ist auch die Wurzel der Religion.

2. Die umgebende Natur

Als Natur bezeichnen wir im weitesten Sinne alles, was diese Schöpfung ausmacht:

Berge, Meere, Mineralien, Pflanzen und Tiere aber auch den „Himmel“ und seine Erscheinungen. Die unvorstellbare Menge an Energie, die in der Schöpfung enthalten ist, erleben wir als „Naturgewalten“ sei das in Form von Erde, Wasser, Feuer oder Wind. Diese Energie ist gleichermassen produktiv, wie auch destruktiv. Sie gebiert und zerstört Leben genau so, wie jede andere Erscheinungsform. Das heisst: während die Form entsteht und vergeht, bleibt das Energiepotenzial stets erhalten. Wir erleben die Natur genau wie das eigene Leben zwar als begrenzt, doch vermitteln uns ein Blick in den Sternenhimmel und der Gedanke an die Kette der Ahnen auch eine Ahnung von Grenzen- und Zeitlosigkeit. Die moderne Naturwissenschaft relativiert Raum und Zeit und sucht andrerseits nach dem Ursprung von beiden. Doch in der Erfahrung tiefer Versenkungszustände sind Raum und Zeit ganz aufgehoben.

3. Die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur

Aus dem, was wir bisher erörtert haben, wird klar: Der Mensch ist ein Teil der Natur. Als solcher kann er ohne sie nicht leben. Die Natur prägt und bestimmt sein Dasein und sein Dasein verändert die Natur. Auch darin unterscheidet er sich nicht von jedem anderen Teil dieser Schöpfung. Was ihn besonders macht ist jedoch sein Wille, d.h. seine Absicht, mit der er die Natur verändert. Im Laufe der technischen Entwicklung, d.h. in der jüngsten Vergangenheit, hat sein Einfluss auf diesem Planeten jedoch enorm zugenommen – man denke etwa an die Umweltverschmutzung, die Klimaerwärmung oder die Gentechnik.

Im Laufe der Technisierung hat sich der so genannt ziviliserte Mensch immer mehr von der Natur entfremdet. Die romantische Bewegung eines Jean Jacques Rousseau war eine erste Reaktion auf diese Entwicklung. Die Freikörperkultur im frühen 20. Jahrhundert, der wir „die Neue zeit“ und unser Dasein in
Thielle verdanken, war ein zweiter Schritt. Ich glaube, dass wir heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends, einen weiteren Entwurf wagen und einen weiteren Schritt tun müssen.

4. Achtung vor den Naturgesetzen

Wenn wir Menschen Teil der Natur sind und mit ihr in Wechselbeziehung stehen, so sind wir auch von den grossen Gesetzen der Natur abhängig. Einige dieser Gesetze, denen wir bis in unseren Stoffwechsel hinein unterworfen sind, sind die grossen Rhythmen der Natur: Der Wechsel von Tag und Nacht, der Wechsel der Jahreszeiten, der Lebenszyklus.

Der Wechsel von Tag und Nacht

Das Leben in den Städten missachtet dieses Naturgesetz immer mehr. Es wird rund um die Uhr in Schicht gearbeitet, wir vergnügen uns Tag und Nacht und bald können wir auch rund um die Uhr einkaufen. Die Lichter gehen nie aus und es werden immer mehr Lichter – Strassenbeleuchtung, Autoscheinwerfer, Schaufensterbeleuchtung, Bewegungsmelder, Beamer, „Advents“lichtketten, Solarlampen auf Gartenwegen etc.

Der Wechsel der Jahreszeiten

In künstlich belichteten Räumen und klimatisierten Räumen und Fahrzeugen verlieren wir den Bezug zum Klima und zum Wechsel der Jahreszeit. Wir gehen im Sommer skifahren und im Winter baden, wir essen bald alle Früchte und Gemüse unabhängig von der Jahreszeit.

Der Lebenszyklus

Der menschliche Körper ist sterblich; er ist anfällig auf Krankheiten, Alter und Tod. Wir unterdrücken Krankheiten mit Medikamenten die nicht heilen, sondern Symptome bekämpfen. Wir lassen uns keine Zeit zum krank sein und zum Ausheilen einer Krankheit. Wir machen die Jugend zum Ideal und entwürdigen das Alter.
Wir bekämpfen den Tod mit allen Mitteln und um jeden Preis (auch wörtlich gemeint), als ob der Tod das Grundübel und nicht auch ein Segen wäre.

Was Naturismus heute sein könnte

Was uns äusserlich vom Grossteil der zivilsierten Menschen unterscheidet ist der Umstand, dass wir uns öffentlich nackt bewegen – soweit dies gesetzlich erlaubt und klimatisch möglich ist. Diese Eigenart teilen wir auch mit der Nudistenbewegung. Von den Nudisten unterscheidet uns jedoch die innere Haltung. Auf der Grundlage der oben dargelegten Gedanken können wir folgende Grundhaltung des modernen Naturismus postulieren:

  • Naturisten bewegen sich nach Möglichkeit nackt in der Natur – im Wissen um ihre Verletzlichkeit und als Ausdruck ihrer Zugehörigkeit zur Natur.
  • Naturisten achten natürliche Ökosysteme und setzen sich für den Schutz natürlicher Lebensräume und anderer Lebewesen ein (und unterstützen deshalb die Bestrebungen der Natur- und Umweltschützer).
  • Naturisten leben so weit als möglich im Einklang mit dem zirkadianen Rhythmus, d.h. sie berücksichtigen die Tageszeit bei ihren Aktivitäten und richten auch ihren Wachund Schlafrhythmus danach.
  • Naturisten leben so weit als möglich im Einklang mit dem Jahreszyklus, d.h. sie verzichten auf übermäsige Klimatisierung und ernähren sich der Jahreszeit gemäss.
  • Naturisten halten sich mit natürlichen Methoden gesund und bekämpfen im Krankheitsfall nicht vorrangig die Symptome, sondern behandeln die Krankheit auf allen drei Ebenen von Körper, Geist und Seele.
  • Naturisten sind in dem Sinne religiös, dass sie um die Vergänglichkeit und die Verletzlichkeit des Lebens wissen und diese respektieren. Diese Religiosität findet ihren Ausdruck nicht nur in der guten Beziehung zur Natur, sondern auch in der Achtung vor anderen Menschen und vor dem Tod. Die Achtung vor anderen Menschen äussert sich im freundlichen, respektvollen Umgang mit den Mitmenschen und im friedlichen Zusammenleben. Die Achtung vor dem Tod äussert sich z.B. im Anspruch auf einen natürlichen Tod und im Mut dazu.

Oberwil, 6.11.04 Shantam E. F.